Bereits vor einigen Monaten haben wir hier einen Artikel mit dem Titel veröffentlicht: Zusammenhänge besser verstehen – Lebensstil. Darin ging es um die ökologische Grundrechnung, eine verblüffend simple Gleichung, die dennoch den Anspruch erhebt, dass sie uns die „Zukunft erklären kann“. Die ursprüngliche, vereinfachte Form enthielt die beiden wesentlichen Faktoren Bevölkerungszahl und Lebensstil.  Stellen wir uns eine Region wie die Stadt Wien oder das Waldviertel vor. Die ökologischen Zukunftsaussichten einer solchen Region (ob es dort also saubere Luft und ebenso sauberes Wasser geben wird, gesunde Wälder, Biodiversität, genug intakte oder zumindest naturnahe Lebensräume) hängen von der Anzahl der dort lebenden Menschen und ihrem Lebensstil ab. Wenn beispielsweise sehr viele eine riesige Familienvilla hätten, wäre der Flächenverbrauch sehr groß und die Lebensräume würden schwinden. Wenn jeder mit veralteten Heizmethoden heizen würde, dann gäbe es immer weniger Wälder und die Luft wäre nicht gerade gut. Und so könnten wir diese einfachen Gedanken weiterspinnen.

Doch haben wir im ersten Teil hervorgehoben, dass damit die Formel noch nicht wirklich aussagekräftig und vollständig war. Wissenschaftler haben daher schon vor Jahrzehnten eine ergänzte Form unter dem Akronym IPAT (Impact = Population × Affluence × Technology) entwickelt und dabei einen wesentlichen weiteren Punkt berücksichtigt, den technologischen Standard. Technologische Fortschritte und umweltfreundliche Technik können wesentlich dabei helfen, manche ökologische Probleme in den Griff zu bekommen und Verbesserungen herbeizurufen. Als Beispiel haben wir den Rückgang des Waldsterbens durch Reduktion des Schwefelgehalts in Treibstoffen in den 1980er Jahren angegeben.

Was wir im ersten Teil der Serie in Frage gestellt haben, war die Vision mancher allzu technikgläubiger Wissenschaftler, dass nämlich bei optimierter Technik sowohl die Anzahl der Menschen als auch der Wohlstand (Lebensstil) weiterwachsen könnten, ohne die Umwelt massiv zu gefährden. Der besseren Verständlichkeit halber geben wir hier die „ökologische Grundformel“ noch einmal wieder.

Die sogenannte „ökologische Grundrechnung“ als Grundlage unserer Überlegungen. Bewusst haben wir unsere Analyse mit dem mittleren Faktor dieser Grafik begonnen, unserem eigenen Lebensstil, denn nur auf ihn haben wir einen unmittelbaren Einfluss. Auch wenn es schwerfällt, haben wir es in unserer Macht, bestimmte Konsumgewohnheiten und unser Verhalten anzupassen. Das hat schnell einsetzende positive Auswirkungen auf unsere unmittelbare Umwelt. Die Illustrationen in diesem Beitrag sind Robert Hofrichters „Das Mittelmeer“ (2020) entnommen und stammen von Martin Gregus (martingregus.com) und Christoph Volker.

In diesem Beitrag wollen wir den ersten Faktor der Formel ansprechen: die Anzahl der Menschen. Wir alle wissen, dass nicht eine eventuell zu niedrige Zahl der Menschen das ökologische Problem ist, sondern die zu hohe. Dieser Faktor entzieht sich unserem unmittelbaren und sofortigen Einfluss. Selbst wenn ein junges Paar beschließt, keine Kinder mehr in diese Welt zu setzen (tatsächlich gibt es in den reicheren westlichen Ländern auch solche Trends), würde sich an der generellen Entwicklung nichts ändern. Denn die westlichen Gesellschaften sind in dieser Beziehung nicht das Problem – ihre Bevölkerung vermehrt sich lange nicht mehr exponentiell. Dennoch nähert sich die Menschheit der 8 Milliarden-Grenze.

Bevor wir einigen konkrete Punkte ansprechen, wollen wir noch einmal die Schwierigkeit erklären, über den Faktor „Bevölkerungszahl“ überhaupt sprechen zu müssen. In manchen Kreisen ist es verpönt, darüber zu sprechen, weil man es als Einmischung in das Leben der Menschen betrachtet. Ein Beispiel: Das schnellste Bevölkerungswachstum haben wir in Afrika. Dort könnte sich die Anzahl der Menschen in nur einem Vierteljahrhundert verdoppeln. Ägypten hat die 100.000.000-Grenze überschritten und die Ägypter vermehren sich rasant weiter. Wenn Wissenschaftler aus dem Westen auf solche Zahlen aufmerksam machen, dann wird es als unzulässige „Präpotenz“ empfunden. Politisch unkorrekt soll es an die kolonialistische Vorherrschaft der Europäer erinnern, als Selbstbestimmung für viele Völker eine Illusion war. Indien hat die 1,3 Milliarden-Grenze überschritten. Selbstverständlich hat unser Verein nicht mit veraltetem Gedankengut dieser Art zu tun. Zugleich wissen wir: Es hilft nichts, die Augen vor den brennendsten Problemen unseres Planeten zu verschließen. Klimawandel und Artensterben gehören dazu. Und sie sind direkte Folge der allzu hohen Bevölkerungszahl und der Lebensweise der Menschen. Die Entwicklungen überrollen unsere Welt. Wir sollten daher offen über alle Faktoren sprechen können – auch über die Überbevölkerung.

Auch Hans Hass hat sich die Finger verbrannt: Tabuthema Bevölkerungswachstum, ein Grundproblem des Planeten

Das Phänomen der Überbevölkerung finden wir in weniger entwickelten Ländern sowie den Krisenherden der Welt. Die mediale Zurückhaltung, es nicht beim Namen zu nennen, muss einen Grund haben. Das Problem findet woanders statt, nicht bei uns. Anderen gute Ratschläge zu geben ist eine heikle Sache.

Das hat auch der berühmte österreichische Meeresforscher Hans Hass erfahren müssen. Der Beobachter der ökologischen Entwicklung während Jahrzehnten sah besorgt auf die rapide fortschreitende Zerstörung von Ökosystemen und warnte vor der Selbstzerstörung der Menschheit. Er verfasste eine Manifestbotschaft an die Frauen der Welt. Die konkreten Vorschläge von Hass zur Eindämmung der globalen Geburtenexplosion lauteten damals:

  • pro Frau zwei Kinder;
  • stirbt eines vor dem zwölften Lebensjahr, ist ein weiteres erlaubt;
  • Frauen können von kinderlosen Frauen das Recht auf ein weiteres Kind übernehmen, vorausgesetzt, sie haben die Mittel, es zu ernähren und zu erziehen.

Sein gut gemeinter, aber unrealistischer Aufruf blieb natürlich nicht nur ohne jede Wirkung, sondern löste auch etwas aus, was auf Neudeutsch als Shitstorm bezeichnet wird. In diversen Foren und Diskussionsrunden des Internets wurden dem hochdekorierten Menschenfreund Bosheit und Naivität unterstellt, und er wurde als westlich-dekadent, totalitär, politisch nicht korrekt, „weißer Massa“ bezeichnet. Diese weniger erfreulich Episode aus dem späten Leben des berühmten Meeresforschers zeigt, wie schwierig es ist, das Thema sachlich, vorurteils- und emotionsfrei zu diskutieren. Meistens mündet jeder Versuch, darüber zu sprechen, in einem ideologischen Lagerkampf. Hass war mutig genug es trotzdem zu versuchen.

Exponentielles Wachstum der Weltbevölkerung in den letzten 200 Jahren. Nach Prognosen wird die Bevölkerung in Afrika mit Abstand weltweit am schnellsten wachsen. Zugleich werden auch die Lebensbedingungen der Menschen schlechter: Armut, politische Instabilität, Kriege und Terrorismus sind nur einige Faktoren. Weitere sind der Ausverkauf von afrikanischen Ländern an andere Staaten und Investoren, Desertifikation, Dürren und der bedrohliche Wassermangel. Migrationsbewegungen sind unter solchen Bedingungen unausweichlich, wie gerade auch die historische Erfahrung der mediterranen Welt seit Jahrtausenden zeigt. Doch nicht nur afrikanischen Ländern droht Wassermangel: Nach Schätzungen der UN-Organisation Plan Bleu könnte die Zahl der wasserarmen mediterranen Bevölkerung, also Menschen, denen pro Jahr weniger als 1 000 m³ Wasser zur Verfügung steht, bis zum Jahr 2025 auf 250 Mio. ansteigen. Aus Hofrichter, 2020 nach Stiftung Weltbevölkerung, abgerufen 2019.

Seit dieser Diskussion im Jahr 2007 ist die Weltbevölkerung von 6,68 Mrd. auf 7,8 Mrd. Anfang 2020 angestiegen – um 1,1 Mrd. in knapp 13 Jahren! Die Zeit läuft uns davon, denn nicht nur die Zahl der Menschen steigt, sondern alle ökologischen Probleme wachsen mit. Übrigens sah auch Gro Harlem Brundtland, die ehemalige norwegische Ministerpräsidentin und von 1998 – 2003 Generaldirektorin der WHO, die Lösung der Übervölkerung genau wie Hass bei den Frauen, nannte das Konzept jedoch diplomatischer Empowerment of Women. In Ländern mit höherem Bildungsniveau unterdrücken die soziokulturellen Rahmenbedingungen die traditionellen oder religiösen Vorgaben. So ist im katholischen Italien die Reproduktionsrate auf aktuell 1,5 Kinder pro Frau gesunken.

Doch viele Menschen und Länder sind von rein rationalen Annäherungen an das Thema weit entfernt. Die religiös-spirituelle Praxis und die Traditionen bremsen demographische Beschränkungsbemühungen. Egal um welche Religion es sich handelt: Die Quellen und Überlieferungen, auf die sie sich berufen, sind Jahrtausende alt und haben verständlicher Weise keinerlei Bezug zur heutigen Realität. Die Marke von 1 Mrd. Menschen erreichte Homo sapiens erst um 1800 n. Chr. In nur 200 Jahren sind mehr als 6 Mrd. Menschen dazugekommen. Hand in Hand mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung gingen die industrielle Revolution und die sich unfassbar beschleunigende Entwicklung der Wissenschaft und der Technologien. Das Postulat endlosen, unbegrenzten Wachstums wurde zum Glaubenssatz.

Die exponentielle Bevölkerungsentwicklung der Menschheit ist eines der Grundprobleme des Planeten. Wohin die ökologischen Entwicklungen führen, wenn sich an Lebensstil und Anzahl der Menschen nichts ändert, wird aus der oben angeführten Grundgleichung auf den ersten Blick ersichtlich.

In westlichen Gesellschaften ist es längst gelungen die Geburtenrate zu senken. Im Falle einer weiterhin sinkenden Geburtenrate wäre noch in diesem Jahrhundert eine stabile, nicht mehr wachsende Erdbevölkerung möglich.

Schweigen und Wegschauen helfen nicht.

Lieber verschweigen, weil die Lösung schwierig ist?

Keiner von uns, kein Einzelner, keine Organisation und keine Regierung kann an weltweiten Prozessen schnell etwas ändern, schon gar nicht an der Bevölkerungszunahme. Unser Verein MareMundi bildet sich nicht ein, schnelle Lösungen anbieten zu können. Und trotzdem oder gerade deswegen halten wir eine Tabuisierung dieses Schlüssel-Umweltthemas für gefährlich. Die Frage, wie viele Menschen sich begrenzte Ressourcen teilen müssen (zu denen der zur Verfügung stehende Platz auf der Erde gehört), ist für jede Umweltüberlegung von besonderer Wichtigkeit. Man darf diese Tatsache nicht verschweigen aus Furcht vor politischen Missverständnissen oder Vorwürfen, sind doch Demographie und Bevölkerungsdruck zentrale Themen der nüchternen Beschreibung des ökologischen Ist-Zustandes. Die Bevölkerungsentwicklung kann aus der Analyse der Umwelt nicht ausgeblendet werden.

Nachhaltige Zukunft – nicht weiter unbegrenzt wachsende Bevölkerung

Wir hören seit dem „Arabischen Frühling“ des Jahres 2011 von einer Migrationswelle und einem „Migrationsproblem“. Dieses Phänomen hat die politische Landschaft in den letzten Jahren wesentlich verändert. Migration ist jedoch so alt wie die Menschheit selbst. Massive Bewegungen von Populationen (auch tierische und sogar pflanzliche) hatten ihre Ursache oft in negativen Klimaveränderungen. Die ernüchternde Erkenntnis: Noch niemals ist es gelungen solche Migrationsströme nachhaltig einzubremsen, wenn sie einmal schwerwiegende Gründe haben. Die Sorge um das nackte Überleben der Menschen in einer bestimmten Region ist zweifellos ein solcher Grund.

Eine nicht weiter unbegrenzt wachsende Bevölkerung ist eine unverzichtbare Voraussetzung für eine nachhaltige Zukunft. Schon heute gelingt es nicht, alle Menschen mit genug Wasser (ein Schlüsselproblem), Nahrung und Wohnraum zu versorgen, das Abfall- und Energieproblem zu lösen, kurz, allen Menschen einen befriedigenden Lebensstil zu ermöglichen. Trotzdem meinen einige immer noch, die Erde könnte bei weitem mehr Menschen ernähren, wenn wir nur unsere Ansprüche mäßigten und nachhaltiger produzierten. Sowohl die stark wachsende Weltbevölkerung als auch der konsumgetriebene Lebensstil der reichen Länder (den auch die ärmeren Länder anstreben) beeinflussen die Lebenswelt von morgen.

Nach allgemeinem Konsens haben Bildung, bessere medizinische Versorgung, Urbanisierung, und größere Selbstbestimmung der Frauen zum deutlichen Absinken der Geburtenrate in allen Industrieländern und den meisten Schwellenländern geführt. Die aktuellen Prognosen, wann die Erdbevölkerung ihr Maximum erreichen und wie hoch es sein wird, sind sehr unterschiedlich. Jørgen Randers prognostiziert in seinem Bericht an den Club of Rome „2052“ aus dem Jahr 2012 einen Höchststand von 8,1 Mrd. Menschen, der in den 2040ern erreicht werden könnte. Die UNO (2019) hingegen prognostiziert in einem ihrer drei Szenarien bis zu 16 Mrd. Menschen im Jahr 2100 mit dann immer noch steigender Tendenz.

So viele Menschen mit immer intensiverem Konsumverhalten führen allerdings unweigerlich zum Schrumpfen und Verschwinden der allerletzten Naturrefugien.

Afrika: Am südlichen Rand des Mittelmeeres wächst die Bevölkerung am schnellsten

Die europäisch-westliche Sichtweise der Welt war über lange Zeiträume eurozentrisch-kolonialistisch. So nannten wir das Mittelmeer wie selbstverständlich Europäisches Mittelmeer, obwohl es als interkontinentales Mittelmeer zwischen drei großen Landmassen „Asiatisch-Afrikanisch-Europäisches Mittelmeer“ (geordnet nach der Größe der Kontinente) heißen müsste. Die eurozentrische Sichtweise war nie korrekt, denn alle Anrainerregionen, auch nichteuropäische und orientalische, haben den Mittelmeerraum und seine Entwicklung ganz wesentlich mitgeprägt.

In der gesellschaftlich-politischen Gegenwart der Welt rückt Afrika immer näher an Europa heran (Stichwort „Migrationskrise”). Wenn wir über den mediterranen Raum und die Geschichte des Mittelmeers sprechen, war Afrika nie weit entfernt. Kriegsführung übers Meer (z. B. zwischen Karthago und Rom) war schon vor Jahrtausenden möglich. Heute stellt das Mittelmeer eine erneute Barriere dar. In gebrauchten Schlauchbooten für wenige Tausend Euro versuchen Migranten den Sehnsuchtsort Europa zu erreichen. Die Investition lohnt sich für mafiöse Schlepperbanden schon bei der ersten Überfahrt. Es ist illusorisch, aus Europa eine Festung machen zu wollen, ebenso wie es nicht geht Millionen nach Europa zu holen. Nachhaltig sind nur Lösungen, die in Afrika selbst geschaffen werden.

Wenn Europa die Augen vor den Entwicklungen in Afrika verschließt (aggressive Ausbeutung durch andere Volkswirtschaften, Armut und hohe Geburtenraten), dann folgt, was Europa so sehr befürchtet: eine wirklich massive Migrationskrise.

Demographische Prognosen sind, wie die meisten anderen Prognosen auch, naturgemäß unsicher. Deswegen sind sie teils erheblichen Angriffen aus der Welt der Wissenschaft als auch von politischen Akteuren ausgesetzt. Doch jedes zukunftsorientierte Handeln erfordert eine bestmögliche Annahme über zukünftig mögliche bzw. wahrscheinliche Entwicklungen.

Politische Instabilität und Kriege verschlimmern die Umweltsituation

Krisen und Konflikte wirken sich verheerend auf die Umwelt aus. Beispielsweise bombardierte Israel im Jahr 2006 ein Kraftwerk im Libanon. Damals flossen nach Angaben der libanesischen Regierung mindestens 10 000 – 15 000 t Öl ins mediterrane Wasser. Man sprach von einer der drei größten Ölkatastrophen der vergangenen Jahrzehnte im Mittelmeer.

Kriege und politische Instabilität wie derzeitig in Syrien haben neben menschlichem Leid auch unabsehbare, auf viele Jahrzehnte nachwirkende Folgen für die Umwelt. Wasser, Böden und Luft werden durch Giftmüll, Munition, Sprengsätze und unprofessionelle Ölförderung für Jahrzehnte verseucht. Experten wissen aus vergangenen Kriegen, dass Ökosysteme so nachhaltig geschädigt werden, dass sie sich auch viele Jahre später nicht erholen können.

Wachstumsraten für die Bevölkerungsentwicklung aller mediterraner Anrainerstaaten von 1950 – 2015 (blau) sowie Prognosen für 1950 – 2030 (rot), 2050 (grün) und 2100 (gelb) nach medianer UN-Prognose.

Demographie am Beispiel Mittelmeerraum

Der moderne Mensch begann seine Entwicklung vor gut 300 000 Jahren in Afrika. Lange Zeit blieb er eine Art von vielen. Archäologen und Historiker haben versucht, den demographischen Werdegang des Homo sapiens bestmöglich zu schätzen. Einen ersten relevanten Anstieg der globalen Bevölkerung gab es erst während der Neolithischen Revolution durch die Einführung der Landwirtschaft. Die Marke von 1 Mrd. erreichte der Mensch allerdings erst zu Beginn der industriellen Revolution im 19. Jh. Seither kamen in ca. 200 Jahren über 6 Mrd. Menschen dazu. Das enorme Wachstum der letzten wenigen Jahrhunderte ist im Wesentlichen auf eine deutlich gesunkene Sterberate zurückzuführen. Wir leben besser, sicherer und länger als jemals zuvor. Der Effekt der gefallenen Sterberate konnte jedoch durch die ebenfalls sinkende Geburtenrate – global aktuell 2,5 Kinder pro Frau – noch nicht ausgeglichen werden.

Das beispiellose globale Bevölkerungswachstum der letzten Jahrhunderte hat den Lebensraum Erde tiefgreifend verändert. Der Mediterran ist durch die Dauer und Intensität der Belastung sogar mehr betroffen als die meisten anderen Regionen der Erde. Seit 1950 liegen gute jährliche Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) auf nationaler Ebene vor (die Schätzungen und Prognosen beziehen sich jeweils auf das geographische Gebiet der aktuellen Staatsgrenzen), anhand derer wir die jüngere demographische Vergangenheit der Mittelmeeranrainer sichtbar machen können. Eine der hier angegebenen Illustrationen zeigt die Entwicklung der Einwohnerzahlen des Mediterran von 1950 – 2020.

Die Einwohnerzahl des Mediterran hat sich im betrachteten Zeitraum ver-2,4-facht. Wir sehen dabei ein ungleiches Bevölkerungswachstum zweier abgrenzbarer Bereiche. Im nördlichen Mediterran (Gibraltar bis Griechenland) hat sich die Bevölkerung innerhalb von 65 Jahren ver-1,5-facht, im östlichen und südlichen Mediterran (Türkei bis Marokko) jedoch ver-4,2-facht. Das Bevölkerungsverhältnis dieser beiden Regionen zueinander hat sich dadurch umgekehrt.

Alles hängt zusammen – das Bevölkerungswachstum können wir nicht ignorieren

Venedig bereitet sich aktuell mit dem milliardenschweren MOSE-Projekt auf Sturmfluten bei gestiegenem Meeresspiegel vor. Unabhängig vom tatsächlichen langfristigen Erfolg dieses Projektes liegt den Konstruktionen zwingend eine Annahme bezüglich des mittelfristig zu erwartenden Meeresspiegelanstiegs zugrunde. Dieser hängt von der Erderwärmung ab, die Erderwärmung von der Menge der Treibhausgasemissionen und diese wiederum – nicht nur, aber auch – von der Anzahl der Menschen. Selbst das Bevölkerungswachstum im weit entfernten China spielt somit eine Rolle bei den Überlegungen zum Hochwasserschutz Venedigs. Dieses Beispiel soll verdeutlichen, dass demographische Prognosen eine unentbehrliche Basis für bestmögliche Schätzungen jedweder zukünftigen gesellschaftlichen Bedürfnisse, Möglichkeiten und Zerstörungspotenziale darstellen. Sie sind unverzichtbarer Bestandteil mittel- und langfristiger soziologischer und ökologischer Strategien. Wie lange man vorausschauen will oder muss, hängt letztlich von der zugrunde liegenden Fragestellung ab. Aktuelle demographische Prognosen reichen bis 2100. Eine zentrale Rolle in allen Projektionen spielt das Modell des demographischen Übergangs. Sinkende Geburtenraten sind ein wesentliches Kennzeichen dieses Modells. Der demographische Übergang besteht aus drei Phasen: Phase 1 weist eine konstant hohe Geburtenrate auf. In Phase 2 sinkt die Geburtenrate ab, um sich in Phase 3 wieder auf ein stabiles, aber deutlich niedrigeres Niveau einzupendeln. Ein Beispiel aus dem Mediterran für den demographischen Übergang seit 1950 liefert Albanien.

Bis ungefähr 1965 verharrte Albanien auf einem hohen Niveau von sechs bis sieben Kindern pro Frau. Innerhalb von 45 Jahren sank die Geburtenrate auf unter 1,7 Kinder pro Frau und scheint sich auf diesem Niveau zu stabilisieren. In anderen Ländern des Mediterrans zeigen sich Variationen dieses Grundmusters.

Ägypten und die Türkei starteten 1950 gleichfalls auf einem sehr hohen Niveau und wiesen in den folgenden Jahrzehnten ebenso deutlich fallende Geburtenraten auf. In Ägypten kam es aber nach dem bisherigen Minimum von drei Kindern pro Frau zuletzt wieder zu einem leichten Anstieg, während die Türkei aktuell asymptotisch auf einen Wert von ca. zwei Kindern pro Frau zusteuert.

Spanien zeigte, dass sich die Geburtenrate durchaus für ein paar Jahrzehnte im Bereich zwischen zwei und drei Kindern pro Frau bewegen kann. Seit den 1980er-Jahren sank die Geburtenrate in Spanien allerdings wieder deutlich ab und erreichte im Zeitraum 1995 – 2000 ein historisches Tief von 1,19 Kindern pro Frau. Dieser Wert gehört zu den niedrigsten Geburtsraten, die jemals auf nationaler Ebene gemessen wurde. Der leichte Wiederanstieg seit 2000 ist ebenfalls ein typisches Merkmal des demographischen Übergangs bei Ländern, die extreme Tiefstände erlebt haben.

Israel zeigt wiederum eine eigene Abwandlung des Grundmusters: Nach anfangs leicht sinkenden Geburtenraten lässt sich seit ca. 1985 eine unveränderte, relativ hohe Geburtenrate von drei Kindern pro Frau verzeichnen. Zusammen mit einer relativ niedrigen Sterberate und der Immigration ergibt sich daraus für den Zeitraum 1950 – 2015 eine durchschnittliche jährliche Wachstumsquote von 2,9 %. Diese langfristige Wachstumsquote Israels gehört zu den höchsten weltweit.

In Palästina ist das langfristige jährliche Bevölkerungswachstum zwar etwas geringer (2,5 %), der demographische Übergang befindet sich allerdings noch in einer relativ frühen Phase. Dementsprechend ist die Geburtenrate noch sehr hoch.

Tatsächlich zeigt ausnahmslos jedes Land seit 1950 fallende Geburtenraten. Doch die einzelnen Länder des Mediterrans haben ihre geschichtlichen und kulturellen Eigenheiten. Diese spiegeln sich auch in den unterschiedlichen Verläufen der Geburtenrate wider. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der demographische Übergang die prägende Gesetzmäßigkeit der Bevölkerungsentwicklung in den nächsten Jahrhunderten bleibt, so erschweren die länderspezifischen Verläufe dennoch eine präzise Vorhersage der jeweiligen Geburtenraten.

Aktuell verfügbare demographische Prognosen:

Es gibt zwei große Institutionen, die regelmäßig umfassende Bevölkerungs-Prognosen veröffentlichen: das Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (WIC) mit Sitz in Österreich sowie die Vereinten Nationen (UN). Ihre jeweils aktuellsten Vorhersagen unterscheiden sich voneinander.

Nach der Medium-Projektion der UN beherbergt die Erde im Jahr 2100 wahrscheinlich ca. 11 Mrd. Menschen mit noch minimal weiter steigender Tendenz. Das Middle-of-the-road-Szenario des WIC zeigt dagegen ein Maximum von nur knapp 9,5 Mrd. Menschen in den 2070er-Jahren und anschließend eine sogar leicht rückläufige Tendenz. Am Ende des Jahrhunderts unterscheiden sich die Prognosen um ca. 2 Mrd. Menschen. Allein dieser Unterschied entspricht der aktuellen Gesamtbevölkerung von China, Russland und Indonesien zusammen. Auch die oberen Grenzen der Unsicherheitsbereiche beider Prognosen unterscheiden sich stark.

Woher rühren diese gewaltigen Unterschiede? Es ist wenig überraschend, dass im Wesentlichen eine unterschiedliche Einschätzung der zukünftigen Geburtenraten zugrunde liegt. Im Werk „Das Mittelmeer” verwendeten wir die Projektionen der UN (die Begründung würde den Rahmen dieses Artikels sprengen; die UN-Prognosen haben einen Datenvorsprung von fünf Jahren). Für den gesamten Mittelmeerraum sehen die UN-Medium-Projektionen zum Ende des Jahrhunderts ein Ende des Bevölkerungswachstums. Auf nationaler Ebene zeigen sich jedoch erhebliche Unterschiede. In vielen europäischen Mittelmeerländern könnte sich die Bevölkerung nach einem vorübergehenden Anstieg im Jahr 2100 wieder dem Niveau von 1950 annähern. Ägypten und Syrien könnten auch weiterhin ein dramatisches Wachstum zeigen. Die beiden Spitzenplätze in den Wachstumsprognosen nehmen Israel und Palästina ein.

Erhebliche prognostische Unsicherheiten bestehen hinsichtlich zukünftiger politischer, wirtschaftlicher, ökologischer oder militärischer Krisen. Derartige Ereignisse beeinflussen nicht nur Geburten- und Sterberaten, sondern führen oft zu ebenso schwer vorhersagbaren Migrationswellen. Der Mediterran steht diesbezüglich auch in einem größeren Zusammenhang. Die Bevölkerung Schwarzafrikas, welche sich im Zeitraum 1950–2015 ver-5,4-facht hat, wird sich nach der mittleren UN-Prognose bis 2045 erneut verdoppeln. Dies entspräche einem Bevölkerungszuwachs von 1,2 Mrd. Menschen in 30 Jahren. Inwieweit das künftige Bevölkerungswachstum Schwarzafrikas den aktuellen Migrationsdruck in Richtung Europa verstärken wird und wie die Transit- und Zielländer des Mediterrans gegebenfalls darauf reagieren werden, ist schwer vorhersagbar. Bereits die Erfahrungen von 2015 zeigen, dass Verwerfungen auch in einzelnen kleineren Ländern erhebliche demografische Veränderungen mit entsprechenden Folgen für Quell- und Zielländer mit sich bringen können. Eine weitere Unsicherheit greift noch tiefer. Das allen Prognosen zugrunde liegende Modell des demographischen Übergangs ist zwar plausibel, seine langfristige Gültigkeit ist aber längst nicht erwiesen. Die gesellschaftliche bzw. politische Reaktion auf anhaltend rückläufige Geburtenraten sind letztlich nur sehr unsicher vorhersagbar.

Demographische Prognosen sind – wie viele andere wissenschaftliche Untersuchungen auch – teils heftiger Kritik ausgesetzt. Einerseits sind sie nicht sicher und damit immer angreifbar. Andererseits sind sie unverzichtbar, um in zentralen gesellschaftlichen und ökologischen Fragen notwendige Entscheidungen bestmöglich treffen zu können. Dabei sollten wir uns nicht auf die bloßen Mittelwerte verlassen, sondern den gesamten Unsicherheitsbereich der Prognosen berücksichtigen.

Woher beziehen wir unsere Informationen?

Die hier präsentierten Informationen basieren zum Großteil auf dem großen Standardwerk Das Mittelmeer[1], an dem unser Team mehrere Jahre lang intensiv gearbeitet hat. Wir haben uns die Frage gestellt, ob es möglich ist, die unzähligen Nuancen der brennenden Umweltprobleme der Gegenwart so zusammenzufassen, dass man auf überschaubarem Platz ein klares und möglichst vollständiges Bild bekommt: Was sind die Ursachen der Probleme (wir nennen sie „treibende Kräfte der Naturzerstörung“) und wie kann man sie in ein logisches System bringen. Zwar heißt unser Werk Das Mittelmeer und behandelt primär unser mare nostrum auf fast 1300 Seiten, doch gerade die letzten beiden Kapitel über Fischerei und Umwelt sind globaler Natur. Was am Mittelmeer gilt, gilt praktisch überall auf der Welt. Unsere Analyse ist daher für die Umweltprobleme einer jeden beliebigen Region anwendbar.

Die nächste Folge der Serie: der technische Fortschritt als Lösung der Probleme?

Viele von uns hoffen darauf, dass der technische Fortschritt unsere Probleme lösen kann. Aus unserer „ universellen Gleichung” ist jedoch ersichtlich, dass ein zu verschwenderischer Lebensstil und eine zu hohe Anzahl von Menschen nicht durch technologischen Fortschritt abgefedert werden können. Bei manchen der schwerwiegendsten Umweltproblemen – etwa beim Verlust natürlicher Lebensräume (Wildnis) und Verlust an Biodiversität und der Artenvielfalt – können wir mit Recht annehmen, dass diese Verluste keine Technologie wiedergutmachen kann. Ein übertriebener Glaube an die Macht technischer Lösungen kann bloß ein bequemer Glaubenssatz sein, der es der Wirtschaft, der Politik und auch Individuen ermöglicht, nicht allzu intensiv über die Dringlichkeit der Umweltprobleme nachdenken zu müssen. Im nächsten Teil der Serie wird es daher um den technologischen Standard und seinen Einfluss auf die Zukunft gehen

Bleiben Sie gesund, kümmern wir uns gemeinsam um unsere schöne Erde und ihre Bewohner

Ihr

Team von MareMundi

Genieße das gute Gefühl, nicht auf Kosten anderer zu leben! Genieße mehr Zeit, mehr Freude, mehr Wissen, mehr Weisheit, genieße das bessere, das zugleich nachhaltigere Leben!

[1] Hofrichter Robert (Hrsg.), 2020: Das Mittelmeer – Geschichte und Zukunft eines ökologisch sensiblen Raums. Springer Spektrum, Heidelberg, 1260 Seiten: https://www.springer.com/de/book/9783662589281

Komplettes Inhaltsverzeichnis des Werks: http://www.robert-hofrichter.com/2020/01/vollstandiges-inhaltsverzeichnis-von.html

Die hier präsentierten Informationen basieren auf Kapitel 12 des Werks (Seite 960 bis 1153), welches die globalen Umweltprobleme unserer Welt zusammenfasst, nicht nur die des Mittelmeeres: Christian Voll, Gerald Blaich, Robert Hofrichter, Jan Gohla, Matthias-C. Müller, Jacek Engel, Sandra Bracun, Walter Buchinger, Walter Rottensteiner, Wolfgang Pekny, Helmut Wipplinger, Dominic Wipplinger, Stefan Haardt, Roland R. Melzer und Martin Pfannkuchen: Umweltsituation: Gefährdung und Schutz des Mittelmeeres

Buchempfehlung zu diesem Thema: Göpel Maja – Unsere Welt neu denken: Eine Einladung. Ullstein, Berlin 2020, ISBN 978-3-550-20079-3



Bericht: Robert Hofrichter
Autoren: Robert Hofrichter, Gerald Blaich, Christian Voll
Redaktion: Helmut Wipplinger
Fotos: aus Das Mittelmeer / Springer