Küstenlandschaft auf Cres, 1967 / Foto: Vladimir Tkalcic

Erinnerungen des 93-jährigen Fischers Dinko Bucul aus Merag (Cres)

Vor nur einem guten halben Jahrhundert war Merag an der Ostseite der Insel Cres weniger als ein Dorf – es war eine Siedlung aus einigen alten Häusern, in denen teils uralte Menschen ziemlich abgeschnitten von der Welt lebten. Heute ist es nicht viel anders, denn im Winter leben hier bloß elf Menschen dauerhaft. Einer von ihnen ist Dinko Bucul, ein Urgestein an dieser Küste.

Was aber die Natur betrifft und das Meer – sie waren völlig anders. So gehörte die Malaria in Dinkos Kindheit noch zum Alltag. Die Nordadria war damals voller Leben, ein Paradies mit schier endlosen Fischschwärmen, riesigen Tunfischen und … und dem Weißen Hai. Den Kindern wäre es in jenen Tagen kaum eingefallen, von den Klippen ins tiefe Wasser zu springen oder weit weg vom Ufer im Meer zu schwimmen. Sie sahen den König der Meere gelegentlich mit eigenen Augen, und ihre Väter und Opas erzählten ihnen wilde Geschichten von den Ausfahrten mit ihren kleinen Booten.

Dinko Bucul heute, im Alter von 93 Jahren / Foto: Vladimir Tkalcic

Wir trafen Dinko und seine Frau im Februar 2024 in seinem Häuschen in Merag, wo er uns einen Kaffee anbot und für seine 93 Jahre völlig klar und detailreich Spannendes erzählte. Unser Freund Vladimir Tkalcic, Unterstützer und bester Kenner der regionalen Geschichte, führte uns zu ihm. Der Blick in die Vergangenheit ist faszinierend, denn er verrät, wie massiv und wie schnell sich unsere Welt ökologisch verändert hat. Für Meeresschützer ist eine solche Begegnung eine zusätzliche Motivation, mehr zur Erhaltung des Istzustandes zu tun. Oder sogar den Versuch zu unternehmen, den Gesundheitszustand der Adria zu verbessern.

Der Tunfischfang (kroat. tunolov) gehörte damals zum Alltag, erzählt Dinko. Überall wurden die bis über vier Meter langen und mehr als 600 kg schweren Leiber dieser „warmblütigen“ Knochenfische aus dem Meer geholt. Das große Zentrum der Jagd war aber in Bakar (Bakarski zaljev) und konkret Kraljevica (ital. Porto Re) südlich von Rijeka. Auf den tonnaras hockten Männer und warteten auf die Ankunft der Tunfische. Es waren nicht irgendwelche Tune, sondern die größten unter ihnen: Blauflossen-Tune (Thunnus thynnus). Dann wurde die Bucht von Bakar mit Netzen abgesperrt und das große Schlachten begann. Für den globalen Bestand dieser migrierenden Art bedeutete der traditionelle Fischfang damals noch keinerlei Gefahr.

Eine alte Postkarte zeigt einen großen gefangenen Weißen Hai (6,20 m und weit über 1.800 kg) aus der Bakar-Bucht, 1906 / Foto: Archiv

Dinko kann sich gut an die Aufregung erinnern, als die Tunfische kamen. Zwar waren sie vereinzelt in verschiedenen Jahreszeiten zu sehen, aber die Masse kam im Mai und dann wieder im August und September. Die begehrten Fische wurden nicht nur in der regionalen Hauptstadt Rijeka (Fiume) verkauft, sondern auch in Triest, Venedig und in anderen Städten.

Während Tunfische in der Bevölkerung, nah und fern, große Begeisterung auslösten, da sie nicht nur exzellentes Fleisch, sondern auch einen guten Verdienst versprachen, verbreitete der Weiße Hai Angst und Schrecken. Ja, dieser größte aller rezenten Raubhaie, der legendäre Carcharodon carcharias (Familie Lamnidae = Heringshaie), fühlte sich im Kvarner wohl. Mehr noch, er operierte in einem der Kernbereiche seines Vorkommens. Wo es viele Tunfische gab und das Wasser nicht zu warm war, konnte ihr Prädator, der Weiße Hai, nicht weit sein. Sie gehörten ökologisch zusammen. Der Kvarner war ein Paradies für den unbestrittenen König der Haie. Nicht selten wurden Exemplare von über sechs Meter und zwei Tonnen aus dem Meer geholt. Kein Wunder, dass sich Kinder wie der junge Dinko fürchteten und wenn sie sich im Meer abkühlten oder wuschen, dann taten sie es im besten Fall in knietiefem Wasser.

Das bescheidene Haus von Dinko auf Cres heute / Foto: Vladimir Tkalcic

Das Nahrungsangebot für diesen Top-Prädator der Weltmeere war damals wesentlich größer als heute. Das galt auch für die Adria: Neben Tunfischen waren dies auch Delfine, Mönchsrobben, Schwertfische, Meeresschildkröten und viele andere. Die großen Hafenstädte der Nordadria wie Rijeka (Fiume), Triest, Venedig und Pula lockten die Haie zusätzlich an. Sie folgten den Schiffen, die damals lange nicht so schnell (und so laut) waren wie heute.

In Sichtweite von Merag liegt unmittelbar westlich von Rijeka Abbazia (heute Opatija), ein mondänes Seebad der Donaumonarchie und heilklimatischer Kurort an der damals österreichischen Adriaküste. Auch Dinko konnte allabendlich seine Lichter sehen. Hier passierten die allermeisten historisch überlieferten Unfälle mit Haien (auch tödliche). Nicht nur die regionale, sondern auch die internationale Presse berichtete darüber. Einmal fiel eine tschechische Lehrerin dem Hai zum Opfer. Seitdem verbreitete sich in der einstigen Tschechoslowakei die Mär, dass Lehrerinnen besonders gefährdet seien …

Der Eindruck, den ein solcher Angriff hinterlässt, ist überwältigend bis verheerend. Doch so tragisch es in Einzelfällen und für die Betroffenen auch ist, eine allzu große Angst vor Haien ist übertrieben. Heute mehr denn je. Die nüchternen Fakten: Eine solide Studie hat in 1.400 Jahren insgesamt 628 überlieferte Berichte über das Vorkommen des Weißen Hais im Mittelmeer ermittelt. Nur ein Teil dieser Sichtungen oder Begegnungen erfolgte in der Nordadria. Ab dem Jahr 476 n.Chr. und dem ersten schriftlich überlieferten Bericht kam es in „nur“ 53 Fällen zu Zwischenfällen mit Menschen. Davon waren 42 Bisse, von denen ein Teil tödlich endete. Und das in 1.400 Jahren … Und in einem Mittelmeer mit fast 4.000 km Länge, dem Rest des einstigen Ozeans Tethys.

Es ist wahrlich nicht so, dass jede Begegnung mit einem Hai (und selbst bei Weißen Haien) mit einem Angriff endet. Sonst hätte es weltweit hunderttausende Tote geben müssen. Heute ist eine Begegnung mit dem Weißen Hai mehr als unwahrscheinlich, ja, fast schon unmöglich. In der Nordadria wurden seit Jahrzehnten keine Sichtungen mehr gemeldet.

Und doch wurden schon mal Überreste von Menschen im Mageninhalt gefangener Weißer Haie festgestellt. Der junge Dinko und seine Kameraden fürchteten sich zu Tode, als der sechs Meter lange Weiße Hai seine Kreise mehrere Tage unmittelbar vor dem Ufer zog. Uns ginge es wohl nicht anders. Allerdings gibt es auch Haiflüsterer, die sich über die Begegnung freuen und ohne Käfig ins Wasser schlüpfen würden.

Weißer Hai im Naturhistorischen Museum Wien. Text zum Ausstellungsobjekt: Dies ist der legendäre Weiße Hai des Naturhistorischen Museums, ein Exemplar mit Geschichte: Gefangen in der Adria am Beginn des 20. Jh., soll sich im Magen des Fisches der Schuh  eines Angehörigen der k. u. k. Marine gefunden haben. Der Hai ist ein Original, der ausgestellte Schuh eine Replik (Heeresgeschichtliches Museum Wien) / Foto: Helmut Wipplinger

Ein Weißer Hai im Naturhistorischen Museum Rijeka, der 1894 in der Bakar Bucht in der Nähe von Krk gefangen wurde / Foto: Robert Hofrichter

Was Dinko und seine Generation noch nicht wissen konnte: Die mediterrane Subpopulation des Weißen Hais ist von der atlantischen isoliert. Die ursprünglichen Besiedler sind vermutlich vor 450.000 Jahren aus australischen Gewässern eingewandert. Vielleicht „irrtümlich“, weil sich die Meeresströmungen der Ozeane umgestellt haben. Die International Union for Conservation of Nature (IUCN) gibt den Status dieser Art als stark gefährdet (endangered) an. Die mediterrane Population steht allerdings als „vom Aussterben bedroht“ (critically endangered) in der Roten Liste. Die Populationsgröße im Mediterran ist nicht bekannt, man geht aber von einem Rückgang von 80% für die letzte Drei-Generationen-Periode (69 Jahre) aus.

Und so ist die Geschichte des Weißen Hais in der Nordadria heute eher nur noch eine Legende. Eine ebenso faszinierende wie beunruhigende: Die noch verbleibende Biodiversität – nur ein schwacher Abglanz des einstigen Reichtums, den Dinko und seine Generation erleben konnte – ist ein Schatz, den wir nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen sollten!

Noch vor 50 Jahren lebten die Menschen auf den Inseln noch sehr viel bescheidener als heute. Fischer aus dem Kvarner / Fotos: Vladimir Tkalcic

Dann setzen innerhalb weniger Jahrzehnte mehrere Entwicklungen ein, welche die kleine Welt von Merag, ja, mehr noch, die Welt des Kvarners und der Adria überhaupt tiefgreifend veränderten. Die Methoden der industriellen Fischerei wurden immer effektiver – oder, als Meeresliebhaber können wir ruhig behaupten: zerstörerischer. Nur noch eine Handvoll immer kleinerer Tunfische kam in der Nordadria an, der kommerzielle Fang lohnte sich kaum noch. Die Tonnaras in der Bucht von Bakar verwaisten. Tonnara (ital.) oder tunera (kroat.) waren ursprünglich etwa 16 m hohe, schräge „Holzleitern“, die als Ausguckposten für die Tunfisch-Fischer dienten.

In einer kleinen, unbedeutenden, felsigen Bucht südlich von Merag, baute man die Anlegestelle für die Fähre zwischen den Inseln Krk (Valbiska) und Cres (Merag). Nun konnten Hunderttausende Reisende zwischen den beiden größten Inseln der Adria wechseln. Die Blechlawine rollte von Jahr zu Jahr massiver an, keiner fürchtete sich mehr vor dem König des Ozeans. Der Weiße Hai war aus diesen Gewässern verschwunden. Nur noch ein alter Mann aus Merag, Dinko, kann sich noch erinnern, wie die Welt von gestern aussah.

Cres um 1986 / Foto: Vladimir Tkalcic

Dinko vor 18 Jahren (2006) / Foto: Vladimir Tkalcic

PS: Wer kroatisch versteht, kann sich auf dem YouTube-Kanal von Vladimir Tkalcic eine Reihe von Interviews anschauen, die er mit Dinko Bucul geführt hat. Sie bieten faszinierende Einblicke in die Welt von gestern. Die hier gezeigten Schwarzweiß-Fotos stammen aus den späten 1960ern, als Dinko schon längst ein erwachsener Mann war. Dennoch vermitteln sie einen guten Eindruck von der Geschwindigkeit der ökologischen und gesellschaftlichen Veränderungen.



Bericht: Robert Hofrichter und Vladimir Tkalcic
Redaktion: Julian Robin
Fotos: Vladimir Tkalcic, Robert Hofrichter, Helmut Wipplinger

Veröffentlicht am 22.04.2024