Der Wissenschaftler Dr. Phillipe Magalhães versorgt eine Pfötchenkoralle mit Korallenmedizin im “Korallen Probiotika Dorf” – dem ersten Unterwasserlabor seiner Art / Foto: Mareike de Breuyn

Es ist allgemein bekannt, dass Korallenriffe ernsthaft bedroht sind. Doch wie akut ist die aktuelle Situation? Und welche Maßnahmen werden ergriffen, um dem Trend entgegenzuwirken?
Ein Interview von Mareike de Breuyn mit der Meeresbiologin Raquel Peixoto.

Ich traf die brasilianische Meeres- und Mikrobiologin Dr. Raquel Peixoto zum ersten Mal auf dem Internationalen Korallenriff-Symposium in Bremen im Sommer 2022. Als Raquel in einem Plenarvortrag ihr Konzept der Korallenmedizin vorstellte, gewann sie die volle Aufmerksamkeit des gesamten Saals – Korallenriffexperten aus aller Welt. In ihrer Rede warnt die Biologin vor allem vor dem „inherent risk of inaction“ oder übersetzt “inhärentem Risiko der Untätigkeit”, was so viel bedeutet wie: Es steht so schlecht um Korallenriffe, dass Nichtstun mehr schadet als so mancher neue (und manchmal scheinbar riskante) Rettungsversuch. Bekannt ist Raquel aufgrund ihrer Forschungserfolge mit Korallenmedizin, die ihr den Spitznamen als „Korallenärztin“ einbrachten.

Wie steht es um Korallenriffe?

Raquel leitet das Marine Microbiomes Labor, indem sie zusammen mit einer motivierten Truppe von internationalen Meeresforscher:innen arbeitet. Das Labor ist Teil von KAUST, kurz für King Abdullah University of Science and Technology, wo sie auch als Professorin unterrichtet. Die Universität liegt an der Küste von Saudi-Arabien am Roten Meer, eine Region bekannt für die am hitzebeständigsten Korallenarten. Wenn man Raquel nach dem aktuellen Stand von Korallenriffen fragt, schätzt sie die Lage als „düster“ ein, fügt dann jedoch überzeugend hinzu “aber wir wissen, wie wir einige Korallenriffe retten können.“ Der schlechte Zustand von Korallenriffen, den die Meeresbiologin anschließend beschreibt, ist auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Globale Erwärmung, Überfischung und Plastikverschmutzung haben eine Lawine von Umweltauswirkungen ausgelöst, die zur Zerstörung und Belastung der Meere führen. Korallenriffe und ihre Bewohner bilden da keine Ausnahme und gehören zu den am stärksten gefährdeten Ökosystemen unserer Erde. Nicht nur das Einkommen von Millionen von Menschen steht auf dem Spiel, Korallenriffe bieten Schutz vor Stürmen und dienen als Brutstätten und Kinderzimmer für zahlreiche Meerestiere. Trotz dieser nüchternen Lage versucht Raquel immer „eine opportunistische Perspektive“ einzunehmen und beschreibt sich selbst als „optimistisch“. Ihre Botschaft: „Es ist dringend, es ist wirklich beängstigend, aber wir wissen, was zu tun ist.“

Probiotika als natürliche Lösung für gesunde Korallen

„Die meisten lebenden Organismen sind auf ihr Mikrobiom angewiesen, also auf die Mikroben, die in ihnen leben“, beginnt Raquel ihre Erklärung über ihre bahnbrechende Entdeckung der „Korallenprobiotika“, und wie sie dazu beitragen können, Korallen gesünder zu machen. „Genau wie bei uns Menschen“, führt die Biologin fort, „haben auch Korallen ihr eigenes natürliches Mikrobiom.“ Der sogenannte Korallen-Holobiont, also das Gesamtlebewesen, besteht aus der Koralle als Wirtsorganismus, mikroskopischen Algen der Gattung Symbiodinium, und aus zahlreichen Mikroorganismen wie Bakterien, Archaeen, Pilzen, und Viren. Diese Mikroben sind sehr flexibel und reagieren unglaublich schnell auf Umweltveränderungen. „Wenn die Koralle also von Stress betroffen ist, neigt das Mikrobiom dazu, in einen pathogenen Zustand überzugehen“ erklärt die Forscherin. Korallen müssen dann mit den neuen schädlichen Mikroben zurechtkommen und es fehlen ihnen zusätzlich „die nützlichen Eigenschaften, die das natürliche Mikrobiom für die Koralle bereitstellt“. Als Wissenschaftlerin ist Raquel von der Idee fasziniert, dass ähnlich wie bei der Verwendung von Probiotika beim Menschen, auch Korallen von der gezielten Zugabe bestimmter Mikroorganismen profitieren können. „Wir erhalten im Grunde die guten Bakterien, isolieren sie, züchten sie im Labor und selektieren sie. Wir setzen dann die selektierten Bakterien in großer Zahl ein, damit sie die Krankheitserreger bekämpfen können und die Vorteile, die sie dem Korallenwirt bieten, auch unter Stress erhalten bleiben.“ Diese Vorteile umfassen unter anderem die Produktion von Vitaminen, die Zufuhr von Nährstoffen und die Abschwächung toxischer Verbindungen innerhalb der Koralle. Raquel betont weiterhin, dass es sich bei dieser Lösung um eine natürliche Methode handelt, die darauf abzielt, die Dinge so zu bewahren, wie sie vor dem Stress waren oder zumindest in ähnlicher Weise. Ernst ergänzt sie ihre Aussage und erklärt: „Unsere menschlichen Einflüsse führen dazu, dass sich das Korallen-Mikrobiom überhaupt in einen pathogenen Zustand verändert. Mit dem Einsatz von Probiotika kehren wir diesen Zustand regelrecht wieder um.“

Erste Erfolge

Die Probiotika von Raquels Labor werden BMCs genannt, was für „beneficial microorganisms for corals“ oder auf deutsch für „nützliche Mikroorganismen für Korallen“ steht. BMCs werden spezifisch für jede Korallenart hergestellt und enthalten eine Kombination von Bakterienstämmen, die bereits in der jeweiligen Korallenart vorhanden sind. Es werden also keine invasiven bzw. „fremden“ Bakterien aufgetragen. Laborexperimente zeigen, dass BMCs den Auswirkungen von Korallenbleiche bei Hitzestress entgegenwirken können und das Korallensterben um bis zu 40 % reduzieren. Auch bei kurzfristiger akuter Hitzebelastung haben die Bakterien bereits einen vorteilhaften Effekt auf die Gesundheit der Koralle. Das erste Langzeitexperiment läuft im sogenannten „Korallen Probiotika Dorf“, dem ersten Unterwasserlabor seiner Art. „Wir sind noch dabei, die Daten zu verarbeiten, da wir weiterhin Probiotika auftragen und eine Menge Daten sammeln“ wirft  Raquel ein, „aber wir werden bald Daten darüber haben, wie sich das Mikrobiom verändert und wie es mit den gesundheitlichen Verbesserungen der Koralle zusammenhängt.“ Sie fügt hinzu: „Eine unserer Sorgen war, dass Probiotika, wenn wir sie auftragen, weggespült werden. Aber dank einer unserer Studien wissen wir bereits, dass sich das Mikrobiom der Koralle tatsächlich verändert.“ Allerdings bestand Raquels größte Besorgnis darin, dass die Korallen-Probiotika zu Veränderungen im Mikrobiom anderer Rifforganismen führen könnten. Erleichtert bestätigt sie aber, dass vorläufige Ergebnisse der neusten Studien darauf hinweisen, dass dies nicht der Fall ist. Es scheint, dass nur die mit Probiotika geimpften Korallen Veränderungen im Mikrobiom aufweisen, während andere Organismen wie Fische, aber auch die Sedimente und das Meerwasser nicht betroffen sind (diese vorläufigen Ergebnisse müssen aber noch überprüft werden).

Die Zukunft von Korallenriffen

Als ich Raquel frage, ob sie überzeugt ist, dass Korallenriffe aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels in 5 bis 10 Jahren verschwinden werden, antwortet sie entschieden: “Ja, das glaube ich fest und dies beruht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.“ Obwohl Raquel von den vielversprechenden Ergebnissen ihrer Studien begeistert ist, betont sie, dass die Anwendung von Korallen-Probiotika kein Allheilmittel ist. „Wir müssen wirklich alle Maßnahmen zur Verringerung der CO2-Emissionen und der Abschwächung anderer globaler Belastungen umsetzen und eine aktive Restaurierung für Korallen entwickeln.“ Was die Meeresbiologin hier nennt, sind die drei Säulen, die von der internationalen Korallenriff-Gesellschaft als notwendig für die Rettung der Korallenriffe definiert wurden. Diese Säulen sind miteinander verknüpft und abhängig voneinander. Das bedeutet, dass keine einzelne der Bemühungen allein Korallenriffe retten wird. „Wir brauchen sie alle“, so Raquel. „Die Eindämmung von CO2 und lokalen Stressfaktoren wird jedoch nicht ausreichen, um die Schäden zu beseitigen, die wir bereits verursacht haben“ stellt die Wissenschaftlerin fest und ergänzt weniger optimistisch: „Selbst, wenn wir jetzt alle Emissionen stoppen, es zu einem apokalyptischen Ereignis kommt, wir alle sterben und die Emissionen aufhören, werden wir aufgrund des CO2 in der Atmosphäre immer wieder mit Massenbleichereignissen konfrontiert sein.“ Worauf die Biologin hinaus will, ist, dass dringend Methoden und Instrumente entwickelt werden müssen, die uns helfen Korallen zu erhalten. Sie wiederholt nachdrücklich: “Wir brauchen alle drei Säulen gemeinsam, denn keines dieser Elemente allein wird den Korallen helfen.” Abschließend betont Raquel mit voller Motivation: „Wir haben einen Plan, und jetzt ist es an der Zeit, ihn umzusetzen.“

In meiner Masterarbeit in Meeresbiologie habe ich zum Thema der Korallenmedizin im Marine Microbiomes Labor geforscht. Ich möchte mich bei Raquel herzlich für die einmalige Gelegenheit und das spannende Interview bedanken! – Mareike de Breuyn

Empfohlene Quellen zur Thematik:
Peixoto, R. S., Sweet, M., Villela, H. D. M., Cardoso, P., Thomas, T., Voolstra, C. R., Høj, L., & Bourne, D. G. (2021). Coral Probiotics: Premise, Promise, Prospects. Annual Review of Animal Biosciences, 9(1), 265–288. https://doi.org/10.1146/annurev-animal-090120-115444

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Bericht: Mareike de Breuyn
Redaktion: Julian Robin
Fotos: Mareike de Breuyn

Veröffentlicht am 06.09.2023