“Meeresrotz” nördliche Adria, bei der Insel Cres am 9. Juli 2021 / Foto: Helmut Wipplinger

Schleimteppiche, Algenplagen, Klimawandel, menschengemacht – kaum jemand kennt sich mit dem Phänomen noch aus.

Spätestens seit Ende der 1980er Jahre kennen die älteren Semester das Phänomen aus der nördlichen Adria. Schon damals herrschte viel Verwirrung und in der Regel sprach man von einer „Algenplage“. Was alle und auch die Medien richtig erahnten: Die weißlich-fädig-schleimigen Aggregate im Meer können nichts Gesundes sein und sehen außerdem äußerst unappetitlich aus. „Meeresrotz“ beschreibt diesen Umstand treffend.
Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte trat das Phänomen im Mittelmeer immer wieder auf. Zuletzt im Frühsommer 2021 im Marmarameer und in Folge auch in anderen mediterranen Meeresbereichen.
„Marmarameer droht Umweltkatastrophe“, berichtete der ORF am 10. Juni 2021 passend. „Ein dicker gräulich-gelb-weißer Schleimteppich bedeckt derzeit das Marmarameer vor der türkischen Metropole Istanbul. Der Schlick, ein Ausscheidungsprodukt bestimmter Algen, könnte ein Massensterben von Meerestieren auslösen. Die türkische Regierung kündigte eine Aufräumaktion an – Fachleute fordern aber nachhaltigere Lösungen.“ Und in diesem Beitrag wurde auch ein Definitionsversuch mitgeliefert: „Der Schleim soll ein Ausscheidungsprodukt bestimmter Algen sein“. Denn das ist die Gretchenfrage: Was ist dieser Schleim eigentlich und wie entsteht er?
„Das Phänomen ist menschengemacht“, berichteten andere Medien. Das nehmen wir immer an, wenn etwas Schlimmes mit der Natur passiert, aber die Erklärung ist so allgemein, dass sie nichts nutzt. Wie menschengemacht? Was passiert da konkret?
dw.com lieferte schon eine differenziertere Betrachtung: Das Wachstum der Substanz wurde vor allem durch Schadstoffe von Pestiziden bis hin zu Abwässern und der Erderwärmung begünstigt. Die dicke, schleimige, grau-braune Matsche auch ‚Meeresrotz‘ genannt, besteht aus toten und lebendigen Organismen, darunter vor allem Phytoplankton. Die mikroskopisch kleinen Algen geben normalerweise Sauerstoff ins Meereswasser ab. Sind sie aber gestresst, produzieren sie zusätzlich eine schleimige Masse, die sich kilometerweit ausbreitet.“
In diesem Beitrag wollen wir versuchen eine wissenschaftlich fundierte Antwort zu liefern.

Mare sporco, „schmutziges Meer“: Das Phänomen ist nicht neu

Bereits im späten 19. Jahrhundert berichteten Marinbiologen ausführlich über so genannte mare sporco-Ereignisse in der Nordadria, das Auftreten amorpher Schleim-(Mucus-)Anhäufungen im Meer. In den Beschreibungen tauchen Begriffe wie „masse glutinose“ (gelatinöse Masse), „malattia del mare“ (Krankheit des Meeres) oder „mare sporco“ (schmutziges Meer) auf. In der k. u. k.-Monarchie, deren Einflussbereich sich auf große Teile der Adria erstreckte, verwendete man das Wort „Seeschleim“ oder „Meeresverschleimung“. Auf Italienisch wird das Phänomen der verschiedenen „aggregati gelatinosi“ mit dem Sammelbegriff „mucillagine“ bezeichnet. Es ist somit kein neues Phänomen. Vermutlich ist es auch schon aufgetreten, als der Grad der Meeresverschmutzung durch Menschen viel geringer war als heute.

Handelt es sich um ein einheitiches Phänomen, dessen Entstehung und Verursacher immer gleich sind?

An dieser Stelle müssen wir auf eine Vielfalt von unterschiedlichen Phänomenen hinweisen, die irreführender Weise oft verwechselt werden. Dabei handelt es sich zum Teil um pelagische (im Freiwasser), zum Teil um benthische (am Meeresboden) auftretende Ereignisse, die unterschiedliche Verursacher haben können. Braun- und sogar Rotalgen können dabei eine wichtige Rolle spielen, in anderen Fällen stecken Bakterien, etwa Cyanobakterien („Blaualgen“), Protisten (diverse Einzeller) oder Makroplanktonorganismen dahinter.

Blüte, Algenblüte, Wasserblüte – die einfachste Erklärung

Unter „Algenblüte“ versteht man das massenhafte Auftreten meist einzelliger Algen bzw. eher Mikroalgen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ideale Wachstumsbedingungen vorfinden (z.B. viel Licht, passende Temperatur und ausreichende Nährstoffe). Im Lebensraum bzw. in den Proben dominiert dann in der Regel nur eine Art oder einige wenige Arten. Die Individuendichte kann dann hunderte Millionen Zellen pro Liter Meerwasser betragen. Durch die Organismen kann sich das Wasser stark verfärben und verschiedene Farbtöne annehmen. Das Wort „Algenblüte“ (algal bloom) ist etwas irreführend, da sich hinter dem Phänomen keine Makroalgen, sondern meist Mikroalgen verbergen, die autotroph, heterotroph oder mixotroph sein können und zu den Protisten zählen. Außerdem können auch andere Organismen, etwa Bakterien oder Protozoen, „Blüten“ verursachen. Es ist daher korrekter, die allgemeinere Bezeichnung „Blüte“ statt „Algenblüte“ zu verwenden.

Bei Blüten kann Schleim auftreten, muss aber nicht

Aus der Nordadria ist neben massiven Blüten auch das Auftreten von großen, amorphen Mucus-Anhäufungen bekannt. Mikroalgen können zwar in Stresssituationen enorme Mengen organischer Stoffe absondern, die später zur Schleimbildung im Wasser führen, viele Blüten haben jedoch überhaupt kein Auftreten von Schleim zur Folge.
Die organische Substanz im Meerwasser, die zur Schleimbildung führt, setzt sich bei Blüten nicht nur aus lebenden Zellen zusammen. Mindestens das Zehnfache der Zellbiomasse liegt als DOM (gelöste organische Materie) vor.

Pelagische schleimige Aggregationen

Die amorphen Mucuswolken sind zumindest primär keine Organismenansammlungen. Am Sommeranfang sind sie oft nahezu frei oder zumindest arm an Zellen, wie der Blick durch das Mikroskop zeigt. Im Gegensatz zu den Blüten ist das Fehlen von Zellen auch an der weißlichen Farbe der Schleimaggregate zu erkennen. Daher ist die landläufige Bezeichnung „Algenplage“ oder „Algenpest“ für pelagische (und oft auch benthische) Schleimanhäufungen irreführend.
Diese pelagischen Mucusaggregationen bilden sich aus polymerisierten organischen Substanzen, etwa Mucopolysacchariden, die im Meerwasser schon vorher in hohen Konzentrationen vorhanden sein müssen. Sie stammen von vorherigen oder gerade ablaufenden Blüten, bei denen ein ungünstiges Nährstoffverhältnis zwischen Stickstoff und Phosphat vorliegt. Infolgedessen können die Organismen keine Proteine oder DNA synthetisieren (dazu wäre ein Verhältnis von Stickstoff zu Phosphor von 16:1 erforderlich) und der bei der Photosynthese produzierte Zucker wird ins Wasser abgegeben. Mucopolysaccharide sind ein extrazelluläres Produkt, das besonders von Bakterien oder Phytoplanktonzellen (etwa Diatomeen) abgeschieden wird. In der Adria wurden vor allem besagtes Diatomeen als Verursacher von Meeresverschleimung festgestellt, so etwa Cylindrotheca closterium, Chaetoceros affinis und Skeletonema costatum. Im Sommer des Jahres 1993 war vermutlich Chaetoceros sp. der wichtigste Schleimproduzent. Bakterien dürften in weiterer Folge durch ihren eigenen Schleim die Struktur und die physikalischen und chemischen Eigenschaften dieser Matrix beeinflusst haben.
Wissenschaftler haben versucht, den verschiedenen Formen Bezeichnungen zu geben, wie etwa „Wolken“ (clouds). Diese und weitere Kategorien wie creamy surface layer und gelatinous surface layer wurden von Stachowitsch et al. (1990) aufgrund der Größe, Struktur, Konsistenz und des Vorkommens der Aggregationen in der Nordadria beschrieben. Im Verlauf der Meeresverschleimung verfangen sich in den Mucusaggregaten sekundär verschiedenste Organismen (z. B. Bakterien, Diatomeen, Dinoflagellaten, andere Protisten) sowie partikuläre organische (POM) und anorganische Schwebteilchen. Bestehende Aggregationen können sogar gelöste organische Substanz (DOM) adsorbieren. Mucus wird von manchen Organismen auch aktiv besiedelt. Die Unterscheidung zwischen aktiven Besiedlern und passiv Gefangenen dürfte dabei aber schwer fallen. In der Folge bilden sich komplexere Schleimansammlungen und -strukturen. Sie pauschal zu beschreiben ist nicht möglich.
Wenn die Aggregationen später zum Grund sinken, sind sie von einer großen Zahl von Organismen besiedelt, die nicht zu den eigentlichen Verursachern des Phänomens zählen. Dieser entscheidende Punkt wurde gelegentlich bei Erklärungsversuchen (etwa in den Medien) nicht gebührend berücksichtigt (wenn z. B. alle im Schleim gefundenen Organismen aufgelistet wurden), sodass die entscheidende Frage nach der Ursache immer wieder unbeantwortet blieb.
Auch gelatinöses Makroplankton („gelatinöses Plankton“) wie Rippenquallen und Larvaceen können zur Schleimbildung im Meerwasser beitragen. Schleimfäden, Fangnetze und verlassenen Hüllen solcher pelagischer Suspensionsfresser können Mucusaggregationen verursachen (vgl. Meeresschnee).

Benthische mucillagine-Aggregate

Seit Anfang der 1990er-Jahre wird das massive Auftreten von benthischen Schleimalgen untersucht. Am Höhepunkt solcher Ereignisse kann der gesamte Meeresgrund von einer unansehnlichen, fädig-schleimigen Algenmasse bedeckt sein. Dieses Phänomen unterscheidet sich von der pelagischen Meeresverschleimung, da es andere Ursachen hat. In diesem Fall kann von einer „Algenplage“ gesprochen werden, denn die einfach organisierte fädige Braunalge Acinetospora crinita mit einreihigen, unverzweigten oder verzweigten Zellfäden und diffusem Wachstum überzieht große Teile des Meeresgrundes.
Die Rotalge, Lophocladia lallemandii, kann in diesen schleimigen Gemeinschaften ebenfalls vorkommen. Allerdings sind auch Protisten am benthischen mucillagine beteiligt. Eine wichtige Rolle spielen etwa die Goldalgen (Chrysophyta sensu lato) Nematochrysopsis marina (= Tribonema marinum) und Chrysoreinhardia giraudii (= Tetraspora giraudii), die mehrzellige Filamente bilden.  Ähnlich ist eine weitere Spezies, Chrysonephos lewisii, die erst 1995 im Mittelmeer nachgewiesen wurde. Diese Arten scheinen bei der Ausbildung der benthic mucilaginous aggregates, wie das Phänomen in der wissenschaftlichen Literatur genannt wird, in toskanischen Gewässern eine wichtige Rolle zu spielen. Kompliziert wird das Erkennen der tatsächlichen Schleimverursacher durch eine (sekundäre) heterogene Ansammlung von Fragmenten benthischer Makroalgen, Cyanobakterien, Diatomeen, Dinoflagellaten, Bakterien und anorganischer Partikel an den klebrigen Filamenten.

Mare sporco, mucillagine – eine Folge der Meeresverschmutzung?

Ist mare sporco einfach ein Eutrophierungsphänomen (erhöhter Eintrag von Nährstoffen) der modernen Industriegesellschaft? Eine einfache Antwort kann der Vielfalt der beschriebenen Phänomene und der Komplexität des ökologischen Geschehens im Ökosystem Meer nicht gerecht werden. Wie dargestellt, haben wir es mit verschiedenen Ereignissen zu tun, von denen manche durchaus eine Folge der Eutrophierung sein können oder zumindest durch den erhöhten Nährstoffeintrag verstärkt werden. Andere Vorkommnisse können aber offenbar nicht direkt mit der Eutrophierung in Zusammenhang gebracht werden.
Möglicherweise wurde das „klassische Phänomen“ mare sporco aus der Nordadria nicht vom Menschen ausgelöst. Dass es sich dabei um kein unmittelbares Eutrophierungsphänomen handeln muss, zeigen die ersten Berichte, die in die Zeit vor der industriellen Revolution zurückreichen. In einem Zeitungsbericht aus Triest ist bereits 1729 von einer Schleimplage berichtet worden. Solche ökologischen Ereignisse hatten auf das Leben der Menschen an den Küsten dramatische Auswirkungen und sind in den damaligen Aufzeichnungen gebührend festgehalten (eine Zusammenfassung mit dem Titel Gli episodi di mare sporco nell Adriatico dal 1729 ai giorni nostri wurde von Umani, Ghirardelli und Specchi 1989 veröffentlicht). Die Fischerei war manchmal für Wochen lahmgelegt oder zumindest beeinträchtigt.
Italienische Fischer prägten einen weiteren Begriff, aqua pesante (schweres Wasser): Sie fingen kaum Fische, dafür war das Einholen der verklebten Netze durch die schleimigen Massen enorm erschwert. Seitdem hat es immer wieder solche Berichte gegeben, vor allem in den Zeitungen von Triest. Aber auch aus anderen Regionen wurde darüber berichtet. Zumindest in der Nordadria ist daher die pelagische Meeresverschleimung vermutlich nicht erst durch anthropogene Einflüsse entstanden. Man kann Eutrophierung, Meeresverschmutzung (also den massiven Eintrag zehntausender giftiger und schädlicher Substanzen unterschiedlichster Natur und das Auftreten von Meeresschleim nicht einfach gleichsetzen, obwohl es zwischen ihnen durchaus Wechselwirkungen geben kann und mit ziemlicher Sicherheit auch gibt. Die Zusammenhänge müssen aber durch künftige Studien genauer erforscht werden. Beispielsweise liegt die Schwierigkeit der Erforschung des Meeresschnee-Phänomens einerseits in der erschwerten Probenahme der sehr fragilen Makroaggregate und zum anderen in den vielfältigen Entstehungsursachen.
Unabhängig von diesen Überlegungen sind die generell durchaus negativen Veränderungen des empfindlichen mediterranen Ökosystems in den letzten 50 bis 60 Jahren vielerorts nicht zu übersehen – und das trotz regionaler bzw. lokaler Verbesserungen durch den Bau von Kläranlagen oder geringerer Ölverschmutzung.

Fazit: Das typische klare, tiefblaue Mittelmeerwasser ist in vielen mediterranen Küstenregionen nicht mehr zu finden. Ebenso wenig der Bewuchs mit einer großen Vielfalt bunter Algen und Seegräser. Und es fehlt die Biodiversität, die einstige Vielfalt des Lebens. Zwar wollen wir Phänomene der Natur wie „Meeresrotz“ wissenschaftlich korrekt betrachten, aber den negativen Einfluss des Menschen auf den Lebensraum keinesfalls relativieren. Er ist enorm und nicht zu leugnen. Den Klimawandel, die Meeresverschmutzung und den Verlust an Biodiversität zu bekämpfen sollte für Regierungen und Individuen die höchste Priorität haben.

Quelle:

PETZ W., R. HOFRICHTER und M. RICHTER, 2003: Mare sporco – Meeresverschleimung, Algenblüte, Algenpest? 88-93. In: HOFRICHTER R. (Hrsg.), 2003: Das Mittelmeer. Fauna, Flora, Ökologie. Band II: Bestimmungsführer. 890 Seiten. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg Berlin.



Bericht: Robert Hofrichter
Redaktion: Walter Buchinger & Helmut Wipplinger
Foto: Helmut Wipplinger