In der Salish Sea vor British Columbia, Kanada, leben nicht nur eine, sondern zwei auffallend unterschiedliche Gemeinschaften von Orcas: die Southern Residents und die Bigg’s Orcas (benannt nach dem kanadischen Wissenschaftler Michael Bigg und auch als „Transients“ bekannt). Obwohl sie denselben Artnamen Orcinus orca tragen, leben diese Gemeinschaften nebeneinander und führen dennoch ein bemerkenswert unterschiedliches Leben mit anderen Ernährungsgewohnheiten, sozialen Strukturen, Jagdstilen und sogar verschiedenen Zukunftsaussichten. Da der Klimawandel und menschliche Aktivitäten den Ozean weiterhin verändern, könnten diese gegensätzlichen Lebensweisen entscheidend dafür sein, welche Population gedeiht und welche ums Überleben kämpft.

Gleiche Art und unterschiedliche Kulturen, oder sind es Unterarten?

Die Southern Residents und Biggs‘ Orcas interagieren in freier Wildbahn nicht miteinander und haben dies seit Tausenden von Jahren nicht mehr getan. Im Laufe der Zeit haben sie unterschiedliche Lebensweisen und Spezialisierungen entwickelt, die Ökolog:innen als verschiedene Ökotypen bezeichnen. Die Southern Residents sind Fischspezialisten und ernähren sich fast ausschließlich von Chinook-Lachs, einer großen, fettreichen Art, die einst in der gesamten Salish Sea reichlich vorhanden war. Sie leben in großen, stabilen Familiengruppen, sogenannten Pods, und kommunizieren mithilfe charakteristischer Lautdialekte, die über Generationen weitergegeben werden. Diese Schwertwale sind sowohl den Einheimischen als auch den Forscher:innen bestens bekannt. J35 „Tahlequah” sorgte 2018 für internationale Schlagzeilen, als sie ihr verstorbenes Kalb 17 Tage lang mit sich trug und damit auf außergewöhnliche Weise ihre Trauer zum Ausdruck brachte. Eine weitere Ikone, L25 „Ocean Sun”, geboren um 1928, ist die älteste bekannte Southern Resident und gilt als Mutter von Lolita, einer der berühmtesten und tragischsten Orcas in Gefangenschaft, die von 1970 bis zu ihrem Tod im Jahr 2023 im Miami Seaquarium in Florida, USA, gehalten wurde.

Im Gegensatz dazu sind Biggs-Orcas Jäger von Säugetieren. Sie jagen Robben, Seelöwen und sogar Schweinswale, wobei sie ihre Beute mit List und Überraschung überfallen. Sie bewegen sich in kleineren, ruhigeren Gruppen und sind oft dabei zu beobachten, wie sie die Küsten und Inselkanäle patrouillieren, wo sich Meeressäuger auf den Felsen nahe der Tangwälder versammeln. Im Gegensatz zu den Southern Residents ist die Population der Biggs-Orcas in den letzten Jahren stetig gewachsen, was zum Teil auf die Erholung der Robbenpopulationen entlang der Pazifikküste zurückzuführen ist. Auch einzelne Bigg-Orcas sind bekannt: T049A „Nan“ ist eine Matriarchin, also die weibliche Anführerin einer Familiengruppe, deren Nachkommen entlang der Küste von Kalifornien bis Alaska gesichtet wurden.

Die genetischen und kulturellen Unterschiede zwischen den Southern Residents und den Bigg’s-Orcas haben einige Forscher:innen dazu veranlasst, sie als eigenständige Arten oder Unterarten anzuerkennen. Die NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration) und eine von Morin et al. (2024) durchgeführte Studie unterstreichen diese Trennung, obwohl taxonomische Komitees wie die „Society of Marine Mammology“ weiterhin vorsichtig sind und Orcinus orca vorerst als eine einzige Art beibehalten, während sie wichtige ökotypische Strukturen anerkennen. Kurz gesagt, ihre Trennung ist eindeutig und nimmt zu, auch wenn die offizielle Benennung noch diskutiert wird.

Ein Bigg’s Orca beim „Spyhopping“, ein Verhalten, von dem Forscher annehmen, dass es der Orientierung oder Beobachtung der Umgebung dient. / Foto: Andrew Lees, Five Star Whale Whatching

Der Preis der Spezialisierung

Einer der größten Unterschiede zwischen diesen beiden Populationen von Orcas ist ihre Flexibilität in Bezug auf die Ernährung. Bigg’s Orcas sind Generalisten in der Welt der Meeressäugetiere und können je nach Verfügbarkeit zwischen verschiedenen Beutetierarten wechseln. Die Southern Residents hingegen sind echte Spezialisten. Ihre Abhängigkeit vom Chinook-Lachs bindet ihr Überleben an den Bestand einer einzigen Fischart, und dieser Fisch ist ernsthaft bedroht. Zwar greifen sie auch auf andere Lachs- bzw Fischarten zurück, doch diese machen lediglich einen kleinen Teil ihrer Nahrung aus und liefern vermutlich weniger Energie als Chinook-Lachse.

Der Klimawandel erschwert die Lebensbedingungen für Lachse in jeder Lebensphase. Die Erwärmung der Gewässer, veränderte Flussläufe und ein erhöhter Krankheitsdruck beeinträchtigen ihr Überleben. Hinzu kommen die Auswirkungen von Staudämmen, Lebensraumzerstörung und Überfischung, sodass klar ist, warum die Southern Residents zu kämpfen haben. Ihre kulturelle Verbundenheit mit dem Lachs ist zwar bemerkenswert, macht sie aber in einer sich schnell verändernden Welt weniger anpassungsfähig bzw. resilient.

Ein Jungtier eines Bigg’s Orcas kommt zum Luftholen an die Oberfläche. Im Vergleich zu ausgewachsenen Schwertwalen wirkt seine Haut orange, das liegt daran, dass die äußere Fettschicht noch dünn ist und die Blutgefäße durchscheinen. Mit zunehmendem Alter hellt sich die Haut auf und wird schließlich weiß. / Foto: Andrew Lees, Five Star Whale Whatching

Flexibilität ist die Zukunft

Was sich bei diesen beiden Populationen beobachten lässt, ist eine allgemeine Lehre über das Überleben von Wildtieren in der heutigen Zeit: Generalisten kommen mit Veränderungen tendenziell besser zurecht als Spezialisten. Flexibilität in Bezug auf Ernährung, Verhalten und Lebensraumnutzung verschafft Tieren wie den Bigg‘s-Orcas einen Vorteil, wenn sich Ökosysteme unter dem Druck von Klimastörungen, Umweltverschmutzung und menschlichen Eingriffen verändern.

Das bedeutet nicht, dass wir die Southern Residents aufgeben sollten, ganz im Gegenteil. Ihre Geschichte ist eine wichtige Erinnerung an den Wert der Artenvielfalt und gegenseitigen Abhängigkeiten bzw. ökologischen Beziehungen in der Natur. Aber sie zeigt auch, wie wichtig es ist, die Lachspopulationen wiederherzustellen, die Lärmbelastung zu reduzieren und diesen Schwertwalen die Chance zu geben, die sie verdienen.

Was du tun kannst
  • Achte beim Verzehr von Fischen und Meeresfrüchten, dass sie nachhaltig gefangen wurden und du somit Fischereien unterstützt, die wilde Populationen schützen.
  • Sei ein verantwortungsbewusster Bootsfahrer: Befolge die Richtlinien für Walbeobachtungen, halte einen sicheren Abstand zu Meeressäugern ein und vermeide es, ihr natürliches Verhalten zu stören.
  • Wähle ethisch handelnde Walbeobachtungsanbieter, die sich an strenge Naturschutzstandards halten.
  • Unterstütze Meeresschutzbemühungen durch Spenden oder Freiwilligenarbeit und hilf so, sowohl Raubtiere als auch Beutetiere zu schützen.


Bericht: Mareike de Breuyn
Redaktion: Julian Robin
Fotos: Andrew Lees, Five Star Whale Whatching

Veröffentlicht am 11.10.2025